Ist Zeiterfassung in der Praxis Pflicht?

Ja, die Zeiterfassung ist in der Arztpraxis spätestens seit 2022 und in Teilen auch schon früher Pflicht.

Wie lautet die rechtliche Grundlage zur Zeiterfassungspflicht?

1. Zeiterfassung über 8 Stunden und an Sonn- und Feiertagen seit 1994 Pflicht

Seit 1994 gilt in Deutschland das Arbeitszeitgesetz für alle Arbeitsverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland. Dies beinhaltet auch alle Arztpraxen, mit einigen Ausnahmen bei leitenden Angestellten. Durch das Arbeitszeitgesetz gilt die Pflicht der Zeiterfassung für alle Arbeitstage, die über 8 Stunden Arbeitszeit hinausgehen sowie für Sonn- und Feiertagsarbeit. (§16 Abs. 2 ArbZG, §3 Satz 1 ArbZG)

2. Systematische Zeiterfassung mit Stechuhr-Urteil seit 2019 auf europäischer Ebene Pflicht

Mit dem sogenannten Stechuhr-Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Mai 2019 Arbeitgeber dazu verpflichtet die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen.

Im Mai 2019 erließ der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein bedeutendes Urteil zur Zeiterfassung am Arbeitsplatz. Dieses Urteil, bekannt als "Stechuhr-Urteil", fordert von Unternehmen in der EU, die tägliche Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter genau zu erfassen.

Das Urteil entstand aus einem Streit zwischen einer spanischen Gewerkschaft und der Deutschen Bank. Die Gewerkschaft verlangte eine präzise Arbeitszeiterfassung zur Einhaltung der Arbeitsvorschriften.

Laut EuGH müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Arbeitgeber ein verlässliches System zur Arbeitszeiterfassung implementieren. Dies basiert auf der EU-Arbeitszeitrichtlinie und der Grundrechtecharta.

Ohne genaue Zeiterfassung können Rechte wie maximale Arbeitszeiten, Ruhezeiten und Pausen nicht gewährleistet werden. Ein solches System schafft Transparenz und ermöglicht die Überwachung der Arbeitsgesetze.

Das Urteil zwingt EU-Arbeitgeber, ihre Systeme zur Arbeitszeiterfassung einzuführen oder anzupassen. Ziel ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Sicherstellung der Gesetzeseinhaltung.

3. Systematische Zeiterfassung mit Grundsatzurteil seit 2022 in Deutschland Pflicht

Dieses Urteil wurde am 13. September 2022 durch das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts (BAG) auf Bundesebene bestätigt.

Im Jahr 2022 fällte das Bundesarbeitsgericht in Deutschland ein Grundsatzurteil, das die Pflicht zur systematischen Zeiterfassung in Unternehmen bestätigt. Dieses Urteil stärkt die Anforderungen an Arbeitgeber, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten präzise zu dokumentieren.

Das Urteil folgte auf eine Klage und bezog sich auf die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs von 2019. Es zielte darauf ab, die praktische Umsetzung dieser EU-Richtlinien in deutsches Recht zu klären.

Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, ein System zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter zu implementieren. Dies soll nicht nur die tägliche Arbeitszeit, sondern auch Überstunden und Ruhezeiten erfassen.

Das Gericht begründete seine Entscheidung mit der Notwendigkeit, die Einhaltung der Arbeitszeitgesetze zu gewährleisten. Eine präzise Zeiterfassung ist entscheidend, um den Schutz der Arbeitnehmer sicherzustellen und Überarbeitung zu vermeiden.

Für deutsche Unternehmen bedeutet das Urteil, dass sie ihre aktuellen Praktiken überprüfen und gegebenenfalls anpassen müssen. Es fordert eine umfassende Dokumentation der Arbeitszeiten, was die Verwaltung in vielen Betrieben verändern könnte.

Was bedeutet systematische Zeiterfassung?

Der Begriff „systematisch“ in Bezug auf die Zeiterfassung bedeutet, dass der Prozess der Erfassung von Arbeitszeiten strukturiert, regelmäßig und nach einem einheitlichen, nachvollziehbaren Schema erfolgt. Es geht darum, dass die Erfassung nicht willkürlich oder sporadisch stattfindet, sondern auf einer konstanten und methodischen Basis.

4. Gesetz zur Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung wird folgen

Die Bundesregierung hat bereits angekündigt das Gesetz der Arbeitszeiterfassung hinsichtlich der aktuellen Rechtsprechung zu überarbeiten. Mit dem Urteil vom 13. September 2022 hat das BAG aber bereits die systematische Erfassung der gesamten Arbeitszeit zu geltendem Recht gemacht. (Bundesministerium für Arbeit und Soziales)

Für wen müssen die Arbeitszeiten erfasst werden?

Die Arbeitszeiten müssen für alle Angestellten erfasst werden.

Dies betrifft beispielsweise:

  • angestellte Ärzte und Ärtinnen
  • medizinisches Fachpersonal
  • Auszubildene
  • im Labor tätige Mitarbeitende
  • Verwaltungsmitarbeiter:Innen
  • und andere Unterstützungskräfte
  • oder angestellte Reinigungskräfte

Keine Zeiten erfasst werden müssen hingegen für unternehmerisch tätige Personen wie

  • Praxisinhaber:Innen
  • beauftragte Selbstständige
  • beauftragte Unternehmen

Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang eine mögliche Schein-Selbstständigkeit.

Schein-Selbstständigkeit liegt vor, wenn jemand offiziell als Selbstständiger geführt wird, in der Praxis aber wie ein Angestellter arbeitet. Solche Personen sind oft in die Abläufe des Auftraggebers fest eingebunden, ohne die Freiheiten eines echten Selbstständigen zu genießen. Dies kann rechtliche Probleme sowohl für den „Selbstständigen“ als auch für den Auftraggeber verursachen.

Kriterien für Schein-Selbstständigkeit

Es gibt mehrere Anzeichen, die auf eine Schein-Selbstständigkeit hindeuten können:

  1. Weisungsgebundenheit: Der Selbstständige muss genau den Anweisungen und Vorgaben des Auftraggebers folgen, ähnlich wie ein Angestellter.
  2. Eingliederung in die Betriebsabläufe: Der Selbstständige arbeitet regelmäßig am Standort des Auftraggebers und ist in dessen Betriebsabläufe eingegliedert.
  3. Fehlende eigene Unternehmensmerkmale: Der Selbstständige tritt nicht eigenständig am Markt auf, hat beispielsweise keine eigenen Geschäftsräume, Werkzeuge oder Werbematerialien.
  4. Abhängigkeit von einem Auftraggeber: Wenn der Großteil des Einkommens von einem einzigen Auftraggeber stammt, kann dies ebenfalls ein Indiz für Schein-Selbstständigkeit sein.
  5. Fehlen von unternehmerischem Risiko: Der Selbstständige trägt kein unternehmerisches Risiko, wie es für eine echte Selbstständigkeit typisch wäre.

Wenn Schein-Selbstständigkeit aufgedeckt wird, bedeutet dies in der Regel, dass die betreffende Person rückwirkend wie ein Angestellter behandelt wird.

Sowohl der Schein-Selbstständige als auch der Auftraggeber können rückwirkend zur Verantwortung gezogen werden, was Nachzahlungen und Strafen nach sich ziehen kann.

Das hat mehrere Konsequenzen:

  1. Sozialversicherungsbeiträge: Für den Zeitraum der Beschäftigung müssen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung nachgezahlt werden. Dies schließt Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung ein.
  2. Steuerliche Nachzahlungen: Es kann zu Nachforderungen von Lohnsteuern kommen, da die Einkünfte fälschlicherweise nicht als Lohn aus nichtselbstständiger Arbeit deklariert wurden.
  3. Arbeitsrechtliche Ansprüche: Der als scheinselbstständig Beschäftigte kann Ansprüche auf Urlaub, bezahlte Feiertage und eventuell auch Entschädigungen für Überstunden geltend machen.

Daher ist es wichtig die Vertragsbedingungen und Arbeitsverhältnisse genau zu prüfen, um das Risiko einer Schein-Selbstständigkeit zu vermeiden.

Alle Angaben ohne Gewähr. Bitte kontaktieren Sie bei rechtlichen Fragen den Anwalt Ihres Vertrauens.